„Ich heiße Sabine Marx.“ – „Wie?“, die Frau am Zugticketschalter hob ihren Kopf und schaute mich an, mit großen Augen hinter dicken Brillengläsern. „M – a – r – x“, buchstabierte ich, „Marx – wie euer Marx.“ – „Nein, es ist euer Marx“, sagte die Frau mit einem spöttischen Zucken um die Mundwinkel. Das war 1993 in Moskau während meines Studiums an der Lomonossow-Universität. Ich musste echt lachen über die trockene Euer-Marx-Retourkutsche, auch wenn die Spuren des real-praktizierten Marxismus-Leninismus anderthalb Jahre nach der offiziellen Auflösung der Sowjetunion noch überall sicht- und spürbar waren. Im Herbst 1994 zog ich dann vom Saarland nach Berlin, genauer gesagt nach Friedrichshain. Wenn ich damals durch die Karl-Marx-Allee spazierte oder radelte, begann mein Herz schneller zu schlagen und ich spürte Heimweh nach der russischen Ferne, die noch im Jahr zuvor für einige Monate mein Zuhause war.
Die prachtvolle Architektur der fünf großen Wohnblöcke in der Karl-Marx-Allee im Stil des Sozialistischen Klassizismus löste das Wie-in-Moskau-Gefühl in mir aus. Ist doch u. a. auch das Hauptgebäude der Lomonossow-Universität im sogenannten Zuckerbäckerstil erbaut. Diese Bezeichnung leitet sich von den vielen dekorativen Elementen ab, die der schönen Optik wegen auf die Fassaden aufgesetzt wurden, – wie Verzierungen auf Kuchen und Torten.
1950 reiste eine Regierungsdelegation der DDR in die sowjetische Hauptstadt und nach Leningrad, Stalingrad und Kiew, um sich städtebaulich zu informieren und inspirieren zu lassen. Es sollte ein Prachtboulevard für Paraden und Aufmärsche und Wohnpaläste für Arbeiter entstehen.
Und dann legten am 16. Juni 1953 Arbeiter ausgerechnet auf einer der „Pracht“-Großbaustellen in der Stalinallee als eine der ersten die Arbeit nieder. Am 17. Juni 1953 kam es zum Volksaufstand in der DDR. Auf einer Metalltafel vorm Rosengarten in der Karl-Marx-Allee wird daran erinnert.
Die Karl-Marx-Allee trägt den Namen Marx seit dem 13. November 1961. Ursprünglich hieß sie Große Frankfurter Straße und zwischenzeitlich – von Ende 1949 bis Ende 1961 – wurde sie gemeinsam mit der Frankfurter Allee zur Stalinallee. Die Karl-Marx-Allee erstreckt sich vom Alexanderplatz über den Strausberger Platz bis zum Frankfurter Tor.
Allerdings reichte das Geld nicht aus, um auf dieser gesamten Strecke prachtvolle Wohnpaläste zu bauen. Zwischen Alexanderplatz und Strausberger Platz stehen daher schnörkellose Plattenbauten und dazwischen das sehenswerte Café Moskau und das ebenso sehens- und besuchenswerte Kino International.
Am Freitagabend vergangener Woche war ich auf eine Firmen-Jubiläumsfeier im Haus Berlin am Strausberger Platz eingeladen. Das Haus Berlin und das Haus des Kindes auf der anderen Straßenseite sind zwei Hochhäuser, die torähnlich den Eintritt freigeben auf den Strausberger Platz.
Die Party fand hoch oben im 13. Stockwerk statt, in Räumen, die für Events gebucht werden können, in denen aber auch Tanzkurse stattfinden. Ich feierte an diesem Abend nicht nur das Jubiläum, sondern auch fast jede Minute die grandiose Aussicht auf Berlin.
Auf dem Nachhauseweg schaute ich dann noch bei Karl vorbei, – meinem Namensvetter.
🙂
Liebe Sabine,
ich mag diesen Blick auf den Turm heute besonders gerne, als du ihn geschrieben hast, habe ich zur Abwechslung mal eher geschlafen und werde heute mit einem solchen Blick auf den Turm geweckt, so kann der Tag gut anfangen und gewissrrmaßen ganz nebenbei wieder was über Sabine und Karl Marx in Berlin erfahren, danke dir dafür, einen schönen guten Morgen nach Berlin,
Mia, gleich nach der Dusche, Nachtschreiberin am Tag
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Ich grüße die Namensvetterin nach dieser erfrischenden Morgenlektüre von der weniger mondänden, dafür umso quirligeren Karl-Marx-Straße.
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Liebe Sabine,
schon bei deinem Einstieg in die Geschichte musste ich schmunzeln – Marx ist eben kein Name wie jeder andere. Du hast mich richtig neugierig gemacht, die Karl-Marx-Allee zu erkunden, ich war bisher noch nicht dort – das werde ich bald nachholen. Vielen Dank für die inspirierenden Einblicke. Dein Namensvetter und du gebt übrigens ein sehr hübsches Bild ab! 🙂
Herzliche Grüße
Ulrike
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Liebe Sabine,
wenn Du das so beschreibst, wird Geschichte noch mal auf ganz andere Art lebendig. Bald ist ja wieder 17. Juni und ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als dies ein Feiertag war. Das dieser Feiertag auf der Karl-Marx-Allee quasi seinen Anfang nahm, habe ich nicht gewusst. Auch aus Deinen Beiträgen wird deutlich, das Berlin ein ganz spezieller Ort ist.
Liebe Grüße
Anne
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Liebe Sabine, dein Beitrag macht mich nostalgisch — obwohl ich von der Karl-Marx-Allee immer nur so schnell wie möglich herunter will, wenn ich mal auf ihr lande. Aber diese Fotos von oben und deine Geschichte dazu tauchen sie heute in ein ganz besonderes Licht.
Herzlich, Fe.
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Liebe Sabine,
ich finde es immer wieder bemerkenswert, wie es dir mit einer Leichtigkeit gelingt, eigenes Erleben mit historischem Hintergrundwissen zu verknüpfen, so dass man sich dabei sowohl wunderbar unterhalten als auch bestens informiert fühlt. Auch die visuelle Untermalung gefällt mir wieder sehr, am meisten natürlich die Aussicht auf den Fernsehturm. 🙂
lg. mo…
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