Daddy 007 – Agent für den guten Zweck

Für mich ist die Kirche der Katholischen Pfarrei Herz Jesu in Berlin Prenzlauer Berg eine der schönsten Kirchen, die ich kenne. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg kaum zerstört. Dadurch blieb die farbenprächtige Ausmalung des Innenraumes weitgehend erhalten.

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Und dabei wäre es noch kurz vor Kriegsende fast zur Katastrophe gekommen: Am 21. April 1945 schlug eine zehn Zentner schwere Bombe in die Kirche ein und blieb vor dem Josephsaltar liegen – OHNE zu detonieren. Das war nicht nur ein Segen für das Kirchengebäude, sondern vor allem für die fast 1000 Menschen, die zu diesem Zeitpunkt in den zu Luftschutzräumen ausgebauten Kellerräumen der Kirche das Ende der Angriffe der Alliierten abwarteten. Die Menschen konnten die Kirche unversehrt verlassen, die Bombe wurde entschärft und abtransportiert. Auch das Leben zweier Juden wurde dadurch gerettet, – das von Karl Müller, den der damalige Pfarrer Brinkmann im Keller unter der Sakristei versteckte und von Erich Wolf, der von Kaplan Horst Rothkegel im Heizungskeller der Kirche versorgt wurde.  – So ist die  Herz-Jesu-Kirche nicht nur schön, sondern auch ein Ort eines leisen Wunders und ein Ort, der von Zivilcourage und Nächstenliebe in menschenverachtenden Zeiten erzählt. Lesenswert sind dazu der Artikel „Die Krypta der Herz-Jesu-Kirche – Zufluchtsstätte für Verfolgte“ in der Festschrift 100 Jahre Herz-Jesu-Kirche Berlin-Prenzlauer Berg 1898-1998 und die Artikel „Das Wunder des heiligen Josephs“ und „Die Unterwelt von Herz Jesu“ von Matthias Kohl in der Broschüre Herz Jesu in Berlin-Prenzlauer Berg. Wanderung durch die Geschichte der Pfarrei.

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Blick aus einer der Luken des 48 Meter hohen Glockenturms.

Vor etwa einem Jahr erfuhr ich durch Zufall, dass meinen Vater auch eine spannende Geschichte mit der Herz-Jesu-Kirche verbindet. Im Frühsommer 1964 absolvierte er als angehender Sozialarbeiter ein dreimonatiges Praktikum im Katholischen Männerfürsorgeverein der Caritas in der Kolonnenstraße 55 in Westberlin. Mein Vater erinnert sich, dass er in einem Studentenwohnheim in der Nähe des Checkpoint Charly untergebracht war und in seiner freien Zeit mit Studenten aus dem Wohnheim zwischen den Trümmern am Anhalter Bahnhof Fußball spielte. Während des Praktikums betreute er ältere, alleinstehende Männer, begleitete sie zum Beispiel zum Arzt oder bei Behördengängen und half ihnen, im Alltag klar zu kommen. Sein Praxisleiter bei der Caritas war ein Herr Fischer. Und dieser Herr Fischer fragte meinen Vater eines Tages ganz beiläufig, ob er sich vorstellen und vor allem zutrauen würde, Medikamente über die Grenze von West- nach Ostberlin zu schmuggeln und in der Sakristei der Herz-Jesu-Kirche in Prenzlauer Berg zu hinterlegen. Mein Vater zögerte nicht lange und sagte ja. Schließlich war er 23 Jahre jung, mutig und abenteuerlustig. Hörte sich ja schon cool und aufregend an, sozusagen Agent für den guten Zweck zu sein, ein 007 im Auftrag der Caritas, unterwegs zwischen Ost und West. Doch trotz Wage- und Übermut war meinem Vater klar, dass es kein Spiel, sondern eine sehr ernste und gefährliche Aufgabe war, zu der er sich bereit erklärt hatte. Wäre er entdeckt worden, hätten ihm eine Gefängnisstrafe in der DDR gedroht. Bevor es ernst wurde, gab es einen Probelauf ohne Medikamente. Mein Vater schaute sich die Kirche als Westtourist in Ruhe an und sondierte unauffällig die Lage vor Ort. Und dann kam der erste richtige Einsatz. Er erhielt von Herrn Fischer Medikamente, vor allem kleine Schachteln und Röhrchen, das meiste waren Mittel gegen Herz- und Kreislauferkrankungen, und versteckte sie in seiner Kleidung und am Körper. Es war nicht üblich, dass bei Bürgern aus der Bundesrepublik Deutschland beim Grenzübergang Leibesvisitationen durchgeführt wurden. Mein Vater zeigte bei der Kontrolle an der S-Bahn Friedrichstraße seinen Pass und das war’s. Von dort aus spazierte er zu Fuß bis zur Herz-Jesu-Kirche in Prenzlauer Berg. Nach seiner Erinnerung betrat er die Kirche nicht über das Hauptportal in der Fehrbelliner Straße, sondern ging von der Schönhauser Allee aus über den Hof.

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Durch eine Tür an der linken Seite des Kirchengebäudes gelangte er in die Sakristei.

Dort legte er die Medikamente auf eine Anrichte aus Holz.

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Dann verließ er Sakristei und Hof, ohne einem Menschen zu begegnen. Mein Vater schmuggelte während seines Praktikums ungefähr acht bis zehn Mal Medikamente nach Ostberlin. Manchmal hatte er ein, zwei Einsätze pro Woche, manchmal gab es auch eine längere Pause von einer Woche. Und immer lief es nach demselben Schema ab: Er hinterlegte die Schachteln und Röhrchen in der Herz-Jesu-Sakristei und verschwand wieder, ohne jemanden zu sehen, geschweige denn zu sprechen. Zum Glück wurde er nie erwischt.

Mein Vater weiß nicht, ob sein Agenten-Job nach ihm von jemand anders übernommen wurde. Und ich konnte bisher auch noch nicht herausfinden, wer damals die Kontaktperson aus der Gemeinde war, wer die Medikamente nahm und an wen sie weiter verteilt wurden. Vielleicht an ein Krankenhaus in der Nähe, möglicherweise das St. Hedwig-Krankenhaus. Oder gab es Menschen aus der Gemeinde oder im Umfeld der Gemeinde, die auf die Medikamente angewiesen waren und denen damit geholfen wurde? Meine Recherche läuft noch und falls ich etwas Neues herausfinde, werde ich hier in meinem Blog berichten. Selbstverständlich freue ich mich über jegliche Hinweise. Wenn ihr also etwas wisst oder jemanden kennt, der etwas wissen könnte oder einen guten Recherchetipp für mich habt, könnt ihr mir gerne schreiben!

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Mein Vater: Leo Marx. Bin schon ein bisschen stolz auf meinen coolen Daddy 007 und nachträglich sehr erleichtert und glücklich, dass er als Medikamenten-Agent nicht enttarnt wurde!

8 Kommentare Gib deinen ab

  1. Liebe Sabine, der Titel hat mich schmunzeln lassen und du musst gar nicht schreiben, wie stolz du auf deinen *Daddy 007* ist, das wird in jeder Zeile deutlich.
    Eine tolle Geschichte, die Mut erfordert und Einsatz und Herzblut! Danke fürs Teilen,
    liebe Grüße,
    Mia

    Gefällt 2 Personen

    1. Sabine Marx sagt:

      … und danke dir für deinen lieben Kommentar! ❤

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  2. Ulrike sagt:

    Liebe Sabine,
    vielen Dank für diese berührende Geschichte von Zivilcourage – dein Vater ist damit wirklich ein Vorbild für jeden, nicht nur für dich als Tochter (übrigens sieht man auf dem Foto total eure Familienähnlichkeit). Faszinierend auch, wie die Kirche über die Jahre ein Ort vieler außergewöhnlicher und mutiger Taten der Nächstenliebe war. Ich bin jetzt gespannt, die Pfarrei Herz-Jesu auch mal kennenzulernen.

    Herzliche Grüße
    Ulrike

    Gefällt 1 Person

    1. Sabine Marx sagt:

      Du kannst mir gerne Bescheid sagen, wenn du einen Besuch planst, dann begleite ich dich gerne. 😉 Der Gottesdienst am Sonntag findet in der Regel um 10:30 Uhr statt.

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  3. Miss Novice sagt:

    Liebe Sabine,
    wieder WOW, was für eine spannende, persönliche Geschichte! Ich wusste ja schon, dass dein nächster Beitrag irgendwas mit einer Kirche zu tun hat. Doch das hätte ich nicht erwartet.
    Jetzt bin ich traurig, dass ich nie in diese Kirche gegangen bin, als ich in der Fehrbelliner Straße wohnte (am anderen Ende). Die Malereien wirken osteuropäisch auf mich.
    Die Geschichte deines Vaters, die du dann erzählst, versöhnt mich fast mit dem Katholizismus. So stell(t)e ich mir Glauben vor, engagiert und mutig. Meine eigenen Erfahrungen waren Heuchelei und Konformismus. Ich habe euch doch die Geschichte von der Limo und dem Frühschoppen mit meinem Opa erzählt. Der ging nicht mehr in die Kirche, weil der Pastor ihn und seine Brüder während des Krieges wegen Wilderei an die Nazis verraten hat. Mein Opa kam ins Strafbataillon, sein Bruder nach Buchenwald (die waren auch sonst Querköpfe)…
    Egal, ich wünsche Dir ganz viel Erfolg für Deine Recherche, damit du die ganze Geschichte kennenlernst. Ich kenne dieses Brennen, wenn du etwas herausfinden willst, aber es liegt so weit zurück, die meisten Beteiligten haben ihr Wissen mit ins Grab genommen, du kannst sie nicht mehr fragen. Toi, toi, toi.
    Herzliche Grüße
    Anne

    Gefällt 1 Person

    1. Sabine Marx sagt:

      Und ein WOW meinerseits zu deinem Opa und Großonkel. Ich bedauere es nun, dass ich bei der Frühschoppen-/Limogeschichte nicht nachfragte, warum dein Opa nicht mehr in die Kirche geht. Vermutlich, weil Glaubensfragen irgendwie sehr intim sein können, so zumindest mein Empfinden… Umso schöner, dass du seine Geschichte hier mit mir teilst. Danke dafür, auch für das Daumen drücken für die weitere Recherche!

      Gefällt 1 Person

  4. kuechenmarie sagt:

    Liebe Sabine,
    ich ziehe den Hut vor Deinem Vater und bewundere seinen Mut und seine Mitmenschlichkeit. Diese Geschichte macht doch wieder einmal deutlich, dass es immer wieder auf die Menschen ankommt, die in und für eine Institution arbeiten. Danke für diese bewegende Geschichte.
    Liebe Grüße
    Anne

    Gefällt 1 Person

  5. Sabine Marx sagt:

    Dankeschön für die herzlichen Worte, liebe Anne!

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