Frieren im Sommer

Ganz zu Beginn, wenn ich laufe, bin ich sehr bei meinem Körper. Ich setze einen Fuß vor den anderen. Meine Beine und Arme fühlen sich schwer an, folgen eher widerwillig der Bewegung. Nach einigen Metern und Minuten breitet sich mehr und mehr Wärme in mir aus, die Trägheit verschwindet. Mein Atem fließt, findet seinen Rhythmus, dem meine Muskeln folgen. Ab diesem Moment kann es passieren, dass ich mich sehr leer fühle und ganz in der Bewegung aufgehe. Im Hier und Jetzt. Pure Wärme, reiner Atem, immer weiter. Ein anderer Zustand ist, dass auch meine Gedanken und Gefühle in rhythmische Schwingungen geraten, sich in meinem Kopf entknoten und auf ihre eigene kleine Reise gehen, getragen von einem Körper, der weiß, was er tut. 1998 sind wir in die Nähe des Nordbahnhofs gezogen, mitten in Mitte an die Grenze zum Wedding. Der Volkspark Humboldthain wurde zu meiner Lieblingsjoggingstrecke.

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Blick von der Brunnenstraße auf den Fernsehturm mit Volkspark Humboldthain rechts

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Eine 29 Hektar große grüne Insel mit Liegewiesen, großen, wohltuenden Schatten spendenden Bäumen, kleinen Wasserläufen, sanften Hügeln und mit zwei steileren Erhebungen im südlichen und nördlichen Teil des Parks, – willkommene läuferische Herausforderungen in der sonst eher flachen Monotonie.

Ich weiß nicht, wie viele Runden ich durch den Humboldthain drehte, ohne mir einen Kopf zu machen, über was ich da eigentlich genau jogge. Doch es gibt diese Momente, in denen aus Sehen Erkennen wird. Aus meiner Läufertrance aufgewacht, begriff ich, dass mich Bunkerberge aus der Puste brachten und ich über Trümmerschutt laufe: Alle kleinen wie größeren Erhebungen und Hügel im Park sind nicht natürlich und erst durch den und nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden.

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Bei der Fertigstellung des Parks 1876 war die gesamte Grünanlage noch flach wie ein Brett. Baubeginn war am 14.09.1869, am 100. Geburtstag des Naturforschers Alexander von Humboldt, nach dem der Park benannt ist.

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Der Verein Berliner Unterwelten bietet Führungen im zum großen Teil zerstörten Flakturm im Humboldthain an und erklärt auf seiner Internetseite:

„Im September 1940 wurde auf persönlichen Befehl Hitlers mit der Planung von Flaktürmen begonnen, die – mit schweren Flakgeschützen bewaffnet – den Berliner Innenstadtbereich gegen Bombenangriffe schützen sollten. Zwischen Herbst 1940 und Frühjahr 1942 entstanden in Berlin drei Flakturmpaare, eins davon im Volkspark Humboldthain.
Die Bunker hoben sich mit Abmessungen von ca. 70 mal 70 Metern Seitenlänge und einer Höhe von rund 42 Metern monströs von ihrer Umgebung ab. Unter den meterdicken Stahlbetondecken fanden tausende Zivilisten bei den Bombenangriffen Schutz. In der Nachkriegszeit wurden die Flaktürme von den Alliierten gesprengt. Die Nordseite des Geschützturms im Humboldthain blieb nur deswegen erhalten, weil die nahegelegenen Gleisanlagen der Eisenbahn nicht durch die Sprengung beschädigt werden durften. Bis 1950 wurden im Humboldthain etwa 1,4 Millionen Kubikmeter Schutt abgekippt. Es entstanden zwei Trümmerberge, die Bunkerruinen wurden dadurch weitgehend übererdet.“

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„Der Humboldtbunker nach dem Krieg“, Infotafel im Volskpark Humboldthain, Foto: Sammlung Kelling
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„Sprengung des Bunkers im Jahre 1948“, Infotafel im Volkspark Humboldthain, Foto: Bezirksamt Wedding

Ich nehme an der Tour 2 „Vom Flakturm zum Trümmerberg“ teil. Fotoaufnahmen sind während der Führung nicht erlaubt.

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Es ist ein Ein- und Abstieg in eine fremde, steinerne Welt. Ich sehe nackte, gigantisch dicke Stahlbetonwände und staune über die Größe und Tiefe der Anlage. Flaktürme, so lerne ich, gab es immer im Doppelpack: Zum sogenannten Gefechtsturm, in dem die Führung stattfindet und auf dem Flak-Geschütze und sonstige Waffen positioniert waren, gehörte immer ein Leitturm. Dieser Leitturm war ausgestattet mit Funkmesstechnik und übermittelte über unterirdische Leitungen Informationen an den Gefechtsturm, von wo und in welcher Höhe angreifende Flugzeuge der Alliierten sich Berlin näherten. Der Leitturm wurde – im Gegensatz zum Gefechtsturm – komplett gesprengt und es schauen nur noch wenige Betonteile aus der Erde.

 

Auf seinen unter Schutt begrabenen Resten kann man sich bei sonnigwarmen Temperaturen ausruhen, bei Schnee im Winter herumrodeln und egal bei welchem Wetter hoch- und runterjoggen. Nach der Hitze draußen empfinde ich die Kühle in der Bunkerruine zunächst als wohltuend. Doch im Verlauf der anderthalbstündigen Führung spüre ich, wie Kälte in mich reinkriecht und sich schwer und dunkel in mir einnistet. Trotz eingestürzter Decken und weggebrochener Treppen ist immer noch spürbar, was es für ein Gewaltakt gewesen sein muss, so etwas zu bauen. Der Referent erzählt, dass rund um die Uhr betoniert wurde und beide Türme im Humboldthain bereits nach etwa einem halben Jahr Bauzeit im April 1942 fertiggestellt waren. Ich schaue auf diese steinerne Masse, die mich umgibt: So viel erstarrte, lebensfeindliche Kraft und Energie. In beiden Türmen waren 272 Soldaten im Einsatz. Gegen Ende des Krieges mussten auch Schüler aus Berliner Schulen als Flakhelfer arbeiten: Kinder und Jugendliche, die im Bunker weiter unterrichtet wurden und das „Kriegsabitur“ erhielten. Die Flaktürme wurden jedoch nicht ausschließlich militärisch genutzt. Die ersten und zweiten Geschosse der insgesamt sechsgeschossigen Bunker waren für die Bevölkerung als Luftschutzräume vorgesehen. Im Gefechtsturm hatte man zwischen 12.000 bis 18.000 Plätze geplant. De facto suchten bis zu 40.000 Menschen während Bombenangriffen auf Berlin in den Flakturmpaaren Schutz. Berührt hat mich, dass es im Geschützturm neben einer Kranken- auch eine Geburtsstation gab:

„Zwei Weddinger Hebammen, Frau Dienst und Frau Seidenschnur, hatten einen Raum ‚gemietet‘, damit die Frauen dort sicher entbinden konnten. In den letzten Kriegsmonaten erblickten daraufhin viele Menschen hinter dicken Stahlbetonwänden das Licht der Welt. Es stehen offizielle Geburtsunterlagen zur Verfügung, die das Weddinger Heimatmuseum zusammen getragen hat. Auf Vordrucken der standesamtlichen Geburtsurkunden ist mit Schreibmaschine vermerkt: Standesamt Berlin Wedding – Nr. 242/45 – Renate Rutz ist am 31. Januar 1945 in Berlin im Flakturm Humboldthain geboren.“  (Zitat aus der Infobroschüre „Tour 2. Vom Flakturm zum Trümmerberg“ des Vereins Berliner Unterwelten, S. 20)

In der Zeit von November bis März finden keine Führungen statt. In dieser Zeit beziehen Fledermäuse in der Bunkerruine ihr Winterquartier. 🙂

Nach der Tour durch die Bunkerruine spaziere ich hoch zum Denkmal für die deutsche Einheit und genieße nach 90 Minuten unter der Erde, dass mein Blick weit schweifen kann.

 

IMG_2004Die Farben im Park kommen mir kräftiger und leuchtender vor. Im Rosengarten bleibe ich eine Weile sitzen.

 

Hier ließe sich die Geschichte einer Kirche erzählen, die mal an der Stelle des Gartens stand. Doch auch in dieser Geschichte geht es um Krieg und Zerstörung. Davon habe ich erst einmal genug. Lieber genieße ich noch etwas den Duft der Rosen und schaue den Bienen bei der Arbeit zu.

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12 Kommentare Gib deinen ab

  1. Liebe Sabine,
    dein Titel gibt mir wie beim joggen der vor mir liegende

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  2. …- mein Kommentar hat mich gerade gedanklich überholt und sich schon mal selbst ungeschrieben gesendet! – Weg, schon die Richtung vor…
    Wieder einmal führst du uns in einen Teil der Berliner Geschichte, deren Führung auch schon auf meiner Liste steht…
    Gefallen hat Konfetti natürlich besonders die Zeit, in der außer ihnen niemand in die Anlagen hinein darf, liebe Grüße, das gefällt ihr, sie will in der Zeit mal vorbeikommen! 🙂
    So gehen und laufen wir oftmals über unsere Geschichte und werden uns ihrer erst bewusst, wenn wir buchstäblich ins Dunkle in sie hineingeführt werden…
    Danke dafür,
    liebe Grüße
    Mia

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    1. Sabine Marx sagt:

      Ja, ich finde es auch sehr schön, dass Fledermäuse dort ein (Winter-)Zuhause gefunden haben und dass das auch respektiert wird. Liebe Grüße an Konfetti, ich hoffe, es wird ihr im Bunker gefallen. 🙂

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  3. Markus Trapp sagt:

    Bin beeindruckt. Danke, Sabine. Vielleicht sollte ich auch mal laufen gehen, wenn ich das nächste Mal nach Berlin komme. Und so eine Flakturmführung mitmachen.

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    1. Sabine Marx sagt:

      … dann laufe ich gerne eine Runde mit dir mit! 😉

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  4. kuechenmarie sagt:

    Liebe Sabine,
    beeindruckt hat mich zunächst einmal, dass man den Berliner Fernsehturm wohl wirklich von überall her sehen kann. Der Volkspark Humboldthain war mir bisher nicht bekannt, ein weiteres Ziel für einen der nächsten Berlin Aufenhtalte. Es ist schon bemerkenswert, dass auch mehr als 70 Jahre nach Kriegsende, die Erinnerungen an diese Zeit doch immer noch sehr präsent sind. Und ich glaube das Frieren im Sommer kommt dabei sicher auch ein Stück von innen.
    Herzliche Grüße
    Anne

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    1. Sabine Marx sagt:

      Der Fernsehturm reckt und streckt sich gerne und ist tatsächlich von sehr vielen Stellen aus in Berlin zu sehen, wenn auch nicht von überall her… 😉 Und ja, das Frieren kam schon auch ein bisschen von innen. Herzliche Grüße zurück!

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  5. Ulrike sagt:

    Liebe Sabine,
    im Humboldthain war ich noch nie (das werde ich bald ändern) – und wieder führst du uns die tieferen Schichten eines Orts vor Augen, diesmal sogar wörtlich. Die Kälte der Betonwände konnte ich richtig spüren. „So viel erstarrte, lebensfeindliche Kraft und Energie.“
    Auch wenn der Bunker dem Schutz von Menschen gedient hat (ja sogar Ort für Geburten war), hat die Umgebung doch etwas sehr erdrückend-bedrohliches.

    Umso schöner war sicherlich der Kontrast von Blumen und Bienen in der Sonne.
    Vielen Dank für diese Eindrücke.

    Herzliche Grüße
    Ulrike

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    1. Sabine Marx sagt:

      Liebe Ulrike, für dich als grüne Fee 😉 ist der Humboldthain ganz bestimmt ein passender Ort! Bin schon gespannt, wo du in den nächsten Tagen und Wochen sonst noch überall unterwegs sein wirst! 🙂

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  6. Liebe Sabine,
    ich hoffe, de(ine)m Turm geht es nach den Blitzeinschlägen heute gut …;-)
    Ist schon spannend, wie ich auf einmal Anteil nehme an scheinbar leblosen Gebäuden, die durch deine Blogbeiträge nicht nur eine besondere Geschichte, sondern darüber hinaus ein ganz eigenes Leben bekommen haben: Dinge, Menschen und Themen, die sonst an mir vorbeigegangen sind …
    Ich genieße das sehr!
    Liebe Grüße,
    bis morgen,
    Sabine

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    1. Sabine Marx sagt:

      Ja, der Fernsehturm wird von Blitzen sehr gerne besucht und kann zum Glück mit ihnen sehr souverän umgehen, wir hier zu sehen ist: https://www.youtube.com/watch?v=taL29nc9KJM
      Liebe Grüße und bis gleich! 😉

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  7. mosaiksrunen sagt:

    Liebe Sabine,
    danke für die allerneuste Ansicht des Berliner Fernsehturms. Mutig, dass Du dich in den „lebensfeindlichen“ Bunker getraut hast, um uns all diese Informationen zulassen zu können. Ich bin recht froh, dass Du dich dort nicht erkältet hast. 🙂
    Der Humboldtpark scheint mal wieder eine schöne Berliner Gegend zu sein. Besonders hübsch finde ich den Rosenpark. Da hätte ich sicher auch eine zeitlang verweilt.
    lg. mo…

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