Rendezvous mit (m)einem Turm

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Gestern bin ich nicht groß herumgetourt durch Berlin, sondern direkt zum Turm spaziert. Ich staune immer wieder, dass er trotz seiner extrem schlanken Hüfte, dem im Verhältnis viel zu dicken Kugelkopf und dem Wahnsinnsgewicht von insgesamt 31 Tausend Tonnen so wohlproportioniert rüberkommt und einfach gut aussieht. Wie macht der Kerl das bloß?!

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Hier nun die außergewöhnlichen Modelmaße: Der Turm ist 368 Meter lang. Der Durchmesser  beträgt 16 Meter am Fuß und verjüngt sich nach oben auf 9 Meter.

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Die Kugel hat einen Durchmesser von 32 Metern. Sie besteht aus sieben Stockwerken. Im zweiten befindet sich die Aussichtsplattform mit Bar und in der dritten Etage das Dreh-Restaurant. Die Kugelhaut besteht aus Edelstahlelementen. Die Pyramidenform dieser Elemente sorgt dafür, dass der Wind keine große Angriffsfläche findet. Sie ist aber auch der Grund, warum bei gutem Wetter das Sonnenlicht auf der Kugel in Form eines Lichtkreuzes reflektiert wird. Ein Phänomen, dass der DDR-Führung viel Spott und Hohn einbrachte und als Rache des Papstes bezeichnet wurde.  Der rostfreie Edelstahl, so erzählt der Kunsthistoriker Peter Müller, wurde damals übrigens für viel Geld aus der Bundesrepublik importiert.

Um nicht lange anstehen und warten zu müssen, bestellte ich mir online ein sogenanntes „Fast View Ticket“, das mir ermöglichte an der langen Warteschlange vor der Kasse vorbei zu marschieren. Schnelligkeit hat allerdings ihren Preis. Das Onlineticket kostet stolze 19,50 Euro, das Ticket vor Ort 13 Euro.

Innerhalb des Turmschafts befinden sich drei Fahrstühle, zwei für Besucher und einer für diejenigen, die im Turm arbeiten. Für den Notfall gibt es auch eine Treppe mit 986 Stufen. Unangenehm war, dass 15 Personen in einen Aufzug gequetscht wurden. Angenehm war, dass immerhin mein Blick der Enge entkommen konnte: Der Fahrstuhl hat im hinteren Teil eine Glasdecke. Gebannt schaute ich auf das Bündel Stahlseile, die die Kabine in die Höhe zogen. In 40 Sekunden sausten wir hoch zur Aussichtsplattform in 203 Metern Höhe. Und dort warteten gigantische Aussichten. Fritz Dieter, einer der Architekten des Planungsbüros, das mit dem Bau des Fernsehturms beauftragt wurde, erzählt in einem sehr lesenswerten Interview:

„Schauen Sie mal, hier blicken Sie direkt nach Westen. Ist das nicht großartig? Wir haben die Ein- und Ausgänge gleich zu Beginn so geplant, und es ist niemandem aufgefallen. Mich freut es heute noch: Das erste, was man sah, wenn man das angebliche Symbol des Sozialismus betrat, war der Klassenfeind.“

Und tatsächlich, als ich vom Aufzug direkt geradeaus auf die Fensterfront zuging, sah ich in der Ferne das Brandenburger Tor und dahinter die Straße des 17. Juni und das weite Grün des Tiergartens. Und dieser erste Blick rüber nach Westberlin sollte heimlich ganz bewusst so geplant worden sein? Wow!

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Während über die Mutter 😉 des Berliner Fernsehturms nie jemand spricht, gibt es gleich mehrere, die sich in der Vaterrolle sahen. Da ist Hermann Henselmann, Chefarchitekt von Ostberlin, der 1958 einen „Turm der Signale“ mit kugelförmigem Turmkopf entwarf, möglicherweise inspiriert durch den Start des Sputnik-Satelliten. Und es gibt Gerhard Kosel, damals Präsident der Bauakademie, und Fritz Dieter, Günter Franke und Werner Ahrendt, Architekten und Konstrukteure des Planungsbüros des VEB Industrieprojektierung Berlin, das mit dem Bau des Fernsehturms beauftragt wurde. Auch sie beanspruchten für sich Urheberrechte am Entwurf. Die Bauzeit des Turmes betrug vier Jahre, im Oktober 1969 wurde der Berliner Fernsehturm eröffnet.

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Heute ist der Berliner Fernsehturm aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken und gehört zu einem der Wahrzeichen Berlins, das jährlich eine Million Besucher zählt. Einer davon war gestern – ich. 🙂

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Ich hatte in meinem Beitrag vom 15. April schon mal kurz das Thema Türme als Phallussymbol gestreift. Nach meinem aktuellen Besuch muss ich klar und eindeutig feststellen: Als Phallussymbol taugt der Berliner Fernsehturm nicht. Dafür hat er, wie bereits festgestellt, einen zu schlanken Körper mit zu dickem Kugelkopf. Da gibt es ganz andere Türme und Gebäude, die von den Proportionen her weitaus besser passen. Die Sputnik-Kugel lädt jedoch zu einer anderen, naheliegenden Assoziation ein, die in diesem Video sehr nett umgesetzt wurde. Viel Spaß beim Anschauen!

6 Kommentare Gib deinen ab

  1. Liebe Sabine,
    jetzt muss ich noch mehr und unbedingt auf den Turm, der ja eigentlich, das wusste ich gar nicht, am Müggelsee stehen sollte, wo er wohl mitten in der Flugschneise leider im Weg gestanden hätte …in 40 Sekunden in den Himmel über Berlin, hin zu Cocktails oder zu der sich mit mir und Berlin drehenden Tele-Torte…
    Eine Woche Berlin reicht für meine Berlin-Liste längst nicht mehr aus,
    faszinierte Grüße,
    Sabine

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  2. kuechenmarie sagt:

    Liebe Sabine,
    aus Deiner Beschreibung spricht die Zuneigung zu diesem langen kugeligen Kerl. Ich habe auch schon mal diesen gigantischen Weitblick von oben genossen. Es lohnt sich wirklich.
    Liebe Grüße
    Anne

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  3. mosaiksrunen sagt:

    Liebe Sabine,

    vielen Dank für diese informative Ansicht und überwältigende Aussicht (d)eines Turms.
    lg. mo…

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  4. Ulrike sagt:

    Liebe Sabine,
    seit ich in Berlin wohne, möchte ich auf den Fernsehturm, aber das Schlangestehen und die Preise haben mich bisher abgeschreckt. Umso schöner, dass ich den Ausflug jetzt zumindest durch deine Augen erleben kann. Der Ausblick ist was Besonderes! Sehr interessant finde ich auch die Hintergrundinformationen („Modelmaße“ – der Turm hat wirklich schöne Proportionen).
    Das Video mit dem Turm als Rakete finde ich witzig.
    Sehr künstlerisch und geheimnisvoll ist dein Foto vom Turm im Spiegel – surrealistische Fragmentierung (erinnert mich an Bilder von Magritte, die ich letzte Woche in einer Ausstellung gesehen habe).

    Herzliche Grüße
    Ulrike

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  5. Tobias Kipp sagt:

    Guten Morgen liebe Sabine, finde ich ja interessant, daß der Blick in den Westen offenbar heimlich geplant wurde. Das würde ja für höchst subversive Ost-Architekten-Helden sprechen. Danke für deine Reisen durch Berlin. Ich habe gleich Lust bekommen auch mal wieder hochzufahren. Ist schon so lange her. Liebe Grüße Tobias

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  6. Urs Küenzi sagt:

    Liebe Sabine
    Du führst sehr elegant auf den Turm, danke!
    LG, Urs

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