Zwischen gestern und heute

Wenn ich es mal schaffe, mich zum Joggen aufzuraffen, laufe ich gerne zum Park am Nordbahnhof, fünf Minuten von meiner Wohnung entfernt. Ich drehe meine Runden auf dem Gelände des ehemaligen Stettiner Bahnhofs, der 1950 in Nordbahnhof umbenannt, später abgerissen und zum Todesstreifen der DDR-Grenzanlage wurde. Wo früher Soldaten patrouillierten und die Grenze zwischen Ost- und Westberlin bewachten, wird heute nicht nur gejoggt, sondern auch geklettert und Volleyball gespielt. Beim Klettern beschränke ich mich aufs Zuschauen. Ich staune jetzt noch, dass meine kleine Tochter als Neunjährige dort oben zwischen Käfer und Trabbi herumkraxelte.

Mit Volleyball habe ich es auch nicht so. Ich habe ein großes Talent, mir die Finger beim Pritschen zu verstauchen und Baggern habe ich noch nie hinbekommen, ohne dass meine Unterarme danach rot brannten. An den denkmalgeschützten Liesenbrücken wende ich und laufe zurück mit Blick auf meinen Fernsehturm.

Schräg gegenüber des Parks, an der S-Bahn-Station Nordbahnhof beginnt die Bernauer Straße. Sie trennt Mitte vom Wedding. Seit dem Bau der Mauer am 13. August 1961 trennte sie Ost- von Westberlin. Heute ist hier die Gedenkstätte Berliner Mauer als zentraler Erinnerungsort der Berliner Teilung.

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An der Ecke Bernauer/Ruppiner Straße sprang der Bereitschaftspolizist Conrad Schumann am 15. August 1961 über eine Rolle Stacheldraht in die Freiheit. Das Foto seines Sprungs ging um die Welt. Unter der Bernauer Straße wurden mehrere Tunnel gegraben, durch die viele Menschen vom Ostteil rüber in den Westteil krochen. Auch mehr als 27 Jahre nach dem Fall der Mauer staune ich immer noch: Dass diese Mauer damals gebaut wurde. Und dass sie nicht mehr da ist und nur noch Reste übrig sind, die helfen, uns zu erinnern und nicht zu vergessen.

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Als Saarländerin erlebte ich den Mauerfall 750 Kilometer weit entfernt am Fernsehbildschirm: ungläubig, staunend, sehr berührt. Noch im Juni 1989 begleitete ich eine Freundin, als sie ihre Tante in der Nähe von Stralsund besuchte. Ich erinnere mich noch gut, wie wir am Bahnhof mit einem Wartburg abgeholt wurden. Oha, dachte ich, was für ein Klapperteil. Die Woche über waren wir dann nicht mehr im Wartburg, sondern mit einem Trabbi unterwegs. Auch er klapperte. Doch ich mochte seine kompakte, knuffige Art. Er brachte uns tapfer und treu auf die Insel Rügen bis hoch zum Kreidefelsen und wieder zurück nach Stralsund. Nach einer wunderschönen Woche, in der mir die Cousine meiner Freundin das kyrillische Alphabet beibrachte, verabschiedeten wir uns mit Tränen in den Augen. Niemand ahnte, dass fünf Monate später die Mauer fallen und sich die Grenze zwischen DDR und Bundesrepublik öffnen würde. Zum Bahnhof fuhren wir wieder im Wartburg und ich dachte: Oha, was für ein angenehmes, großräumiges Auto. – Luxus ist eben relativ.

Sehr stolz war ich, als ich zum Jubiläum 25 Jahre Fall der Mauer über die Notfallseelsorge/Krisenintervention Berlin die Möglichkeit erhielt, eine Ballon-Patenschaft zu übernehmen. Entlang des ehemaligen Mauerverlaufs leuchteten  7000 große, weiße Heliumballons. Die Paten hatten die Aufgabe, die Ballons am Abend des 9. Novembers 2014 mit einem speziellen Hebel vom Gestell zu befreien und in den Himmel aufsteigen zu lassen. So löste sich die Mauer 25 Jahre nach ihrem Fall symbolisch erneut auf.  Die Lichterballonkette durch Berlin war eine bewegende und optisch sehr starke Aktion. „Mein“ Ballon stand allerdings nicht entlang der Bernauer Straße, sondern in der Nähe des Engelbeckens.

Einen guten Blick über die die Mauer-Gedenkstätte hat man vom Beobachtungsturm des Dokumentationszentrums.

Die Kapelle der Versöhnung wurde errichtet auf dem Fundament der Versöhnungskirche, die sich 1961 durch den Bau der Mauer auf dem Todesstreifen befand und 1985 auf Veranlassung der DDR-Regierung gesprengt wurde. In der Kapelle wird täglich von Dienstag bis Freitag um 12 Uhr im Rahmen einer kurzen Andacht die Biografie eines an der Berliner Mauer Gestorbenen verlesen. An der Berliner Mauer töteten Menschen und starben Menschen.

Doch zum Schluss habe ich noch eine gruselig-lustige Geschichte, die ich im Januar vor einem Jahr erlebte. Auf dem Weg vom Büro nach Hause stieg ich an der Tramstation Gedenkstätte Berliner Mauer aus und lief die Ackerstraße runter entlang der Mauer des Sophien-Friedhofes. Hoffentlich schaffe ich es noch, die Abkürzung über den Friedhof zu nehmen, dachte ich. Im Winter schließt er um 17 Uhr und es war bereits zwei, drei Minuten später. Ich fand das Tor noch offen und schlüpfte erfreut durch. Die Freude währte nur kurz. Am Eingangstor auf der anderen Seite Ecke Invaliden/Bergstraße war das Tor verschlossen. Fluchend lief ich zurück, doch mittlerweile war auch dieser Eingang zu: Ich war eingesperrt, auf mein Rufen reagierte niemand. Der Friedhofswärter hatte Feierabend und mich zurückgelassen zwischen Gräbern, Kreuzen und steinernen Engeln. Ich durchquerte erneut den dämmrig-dunklen Friedhof. Am Tor des Haupteingangs fand ich die Nummer des Sicherheitsdienstes und wurde eine halbe Stunde später befreit. 🙂

Tagsüber und bei Sonnenlicht ist es übrigens wunderschön auf dem Sophien-Friedhof. Hier das Grab des Klavierbauers Carl Bechstein.

Mein Friedhofsschutzengel und ich!

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9 Kommentare Gib deinen ab

  1. Liebe Sabine,
    die Idee der Ballonpatenschaft, jede und jeder schreibt seine individuelle Geschichte in Verbindung mit der Lichterballonkette als gemeinsame Berliner Aktion fand ich damals schon sehr beeindruckend…weiße Ballons, die entlang des ehemaligen Mauerverlaufs in den Himmel gehoben werden …
    Jedes Mal, wenn ich davon höre oder lese, bekomme ich auch heute noch eine Gänsehaut.
    Na ja, ein bißchen bekomme ich die auch, wenn ich von deinem abendlichen Friedhofsgang lese, aber mit dem Friedhofsschutzengel konnte dir ja einfach nichts passieren! 🙂
    Beim Lesen habe ich gemerkt, wie wenig ich erst von Berlin kenne und wie viel jedes Mal neu auf meine Berlin-Liste kommt … und es macht Spaß diese Orte so einmalig und persönlich vorgestellt zu bekommen, danke dir dafür,
    liebe Grüße,
    Sabine

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    1. Sabine Marx sagt:

      Liebe Sabine/Mia Nachtschreiberin, das Gefühl, wenig von Berlin zu kennen, ist mir auch vertraut, – obwohl ich hier schon ein paar Jährchen lebe. ,) Und wer weiß, vielleicht findet sich ja auch für mich was Neues auf deiner Berlin-Liste. Manchmal steckt man ja auf seinen bekannten Trampelpfaden fest und ist erstaunt, was andere entdecken, die mit einem frischen Blick auf Berlin schauen. Herzliche Grüße, Sabine

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  2. kuechenmarie sagt:

    Liebe Sabine,
    ich wäre damals gern dabei gewesen, als diese Ballons zum Gedenken losgelassen wurden. Ich konnte nur damals nicht nach Berlin fahren. Warum weiß ich gar nicht mehr. Aber das Gefühl des tiefen Bedauerns ist mir noch erinnerlich. Schön, über Dich noch mal davon zu hören. Danke
    Liebe Grüße
    Anne

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    1. Sabine Marx sagt:

      Ach schade, liebe Anne! Wer weiß, was sich Berlin zu kommenden Mauerjubiläen ausdenken wird …

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  3. Es ist ein sehr großes Glück, dass die Mauer gefallen ist. Ich erinnere mich daran, wie ich mit 12 Jahren in der Rhön sowie mit 18 und 22 Jahren in Berlin war und in West-Berlin an der Mauer wütend und mit dem Gefühl der Fassungslosigkeit vorbeilief. Beide Male war ich auch in Ost-Berlin, ebenfalls fassungslos. Mich fasziniert noch heute, was Menschen damals auf sich genommen haben, um in die Freiheit zu gelangen und frage mich oft selbst, was ich getan hätte, ob ich angepasst gewesen wäre oder opponiert oder sogar den Mut für eine Flucht gehabt hätte. Damals wie heute bin ich sprachlos, wenn ich Dinge aus dem Leben der Menschen lese, die die Flucht nicht überlebten und erfahre, wofür sie sich interessierten und was sie machten oder vor hatten. Fahre oder gehe ich heute durch die Gartenstraße von Ost nach West oder umgekehrt dann denke ich sehr oft: Es ist ein sehr großes Glück, dass die Mauer gefallen ist.

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  4. Miss Novice sagt:

    Liebe Sabine,
    eben habe ich noch zusammen mit meinem Neffen dein Foto im KIKA-Kummerkasten gesehen und kaum an den Schreibtisch zurückgekehrt finde ich deinen Beitrag, den ich endlich mal kommentieren kann.
    Ich liebe nämlich dieses Rand-Mitte, das du beschreibst, obwohl es heute anscheinend ganz anders aussieht. In den neunziger Jahren war es mein Weg von meiner Wohnung in der Fehrbelliner Straße zur Fakultät in der Invalidenstraße, mein Freund wohnte in der Bergstraße. Den Park am Nordbahnhof gab es noch nicht. Aber den Sophienfriedhof, da bin ich immer zum Sonnen und Lernen hin, weil es keine Penner und Hundehaufen gab, wie im Weinbergspark. Eingeschlossen wurde ich dort zum Glück nie! Ach, ich werde richtig nostalgisch und beneide dich, dass du da wohnst.
    Und ich finde noch eine Parallele zu dir im Post, der Besuch in der DDR kurz vor dem Mauerfall. Am Tag nach meinem 18. Geburtstag reiste ich zu meiner Brieffreundin in der Nähe von Meißen und hatte eine intensive, herrliche Woche mit ihr, ihrem Moped und ihren Freunden. Ich bin dankbar, dass ich dieses Land selbst noch von innen erleben durfte, dass mir dort glückliche und unglückliche Menschen begegnet sind, bevor sich alles so schnell änderte und die Erinnerungskultur alles zu einem zähen Brei verarbeitete.
    Danke für diese persönlichen Erinnerungen, herzliche Grüße: Amy Novice

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  5. Ulrike sagt:

    Liebe Sabine,
    ich war bisher nur einmal in dieser Gegend, als ich kurz nach meinem Einzug letzten Herbst den Flohmarkt am Mauerpark besucht habe. Aber jetzt werde ich die Bernauer Straße und die Umgebung wieder aufsuchen und den Spuren der Geschichte folgen.
    Dass in der Kapelle der Versöhnung die Biografien der Opfer des Todesstreifens verlesen werden, wusste ich nicht. Das ist eine sehr persönliche und eindringliche Art, der Opfer zu gedenken.
    Das Foto mit dem Sprung von Conrad Schumann findet man ja in jedem Postkartenständer in Berlin – aber es hat auch eine kraftvolle Symbolik.

    Ich kann mich auch noch sehr gut an die weißen Ballons zum 25. Mauerfalljubiläum erinnern – ich habe das Aufsteigen der Ballons seinerzeit im TV gesehen und war sehr berührt. Toll, dass du dabei warst und dein Zitat zur Freiheit ist auch ganz wunderbar!
    Den Friedhof werde ich auch lieber bei Tageslicht erkunden, außer die leihst mir deinen Schutzengel aus.
    Vielen Dank, dass du uns auf deinem Rundgang mitgenommen hast.
    Herzliche Grüße
    Ulrike

    Gefällt 1 Person

  6. Urs Küenzi sagt:

    Liebe Sabine
    Wie Du über Joggen und Volleyball (mit Blick auf den fernen Turm) zur Mauer und der Fall übergehst und mich Leser zum Schluss mit einem Schuss Horror entlässt, finde ich sehr gelungen.
    Herzlich, Urs

    Gefällt 1 Person

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